4.1.
+
Zum Tod von Denis Dutton am letzten Dienstag:
BEST OF VIENNA – DAS ZWEITBESTE VON WIEN
30.12.2010
EINE ROSE FÜR DENIS DUTTON
von wienblog
Schon sind die Totentafeln für das Jahr 2010 geschrieben, da erreicht uns in letzter Minute die Nachricht, dass einer der ganz großen Köpfe des Internets von dieser Welt gegangen ist: der aus Kalifornien stammende und in Neuseeland lebende Philosophieprofessor Denis Dutton, im angloamerikanischen Raum bekannt und geschätzt als Intellektueller, der Bücherwissen, Zeitungslektüre und Netzkompetenz vorbildlich unter einem Hut vereinte.
Eigentlich müsste Denis Dutton in Ulrich Holbeins Narratorium, diesem exzellenten Kompendium von Einsiedlern, Querulanten und Wortführern, ganz obenauf zu finden sein. Denn der Mann war mit seiner Internetplattform »Arts & Letters Daily« (www.aldaily.com) zutiefst der Überzeugung, dass eine literarisch ausgerichtete Hochkultur heute in globalen Maßstäben wirken muss.
Das ist, zumal im deutschsprachigen Raum, noch immer keine Selbstverständlichkeit. Denis Dutton wertete seit 1998 sechs Tage die Woche lang die Spitzenprodukte von Printmedien aus, um unseren Geist auf die richtige Fährte zu schicken. Er sammelte und kommentierte Kritiken, Essays, Rezensionen – nicht mehr und nicht weniger. Als Motto hatte sich Dutton den Vers 850 von Senecas Version des Oedipus gewählt: »Veritas odit moras«, was soviel meint wie: »Wahrheit hasst Verspätung«
Dass ALD in europäischen Denkburgen vergleichweise wenig Beachtung findet, dürfte an der durchaus originellen Auswahl von beobachteten Medien und Kolumnisten liegen: Die Liste wird von The Australian angeführt, es folgen: Beirut Daily Star, Boston Globe, CS Monitor, Chicago Tribune, Financial Times, Globe & Mail, Guardian/Observer, Ha’aretz, The Hindu, The Independent, Jerusalem Post, London Telegraph, Los Angeles Times, Moscow Times, National Post, New York Times, New Zealand Herald, SMH USA Today, Washington Post. Unter den deutschsprachigen Qualitätsmedien blättern die ALD-Redakteure überhaupt nur eines regelmäßig auf: das ehemalige Nachrichtenmagazin Der Spiegel.
Die Leser der Intelligenz-Site folgten Denis Dutton auch, als er seinen klugen Service an den Washingtoner Chronicle of Higher Education anschloss. Doch während dieses Universiätsblatt sich mit 70.000 Druckexemplaren und 350.000 Lesern zufrieden geben muss, klicken weiterhin monatlich drei Millionen Leser ALD an.
Die beiden verbleibenden Redakteure, Evan Goldstein und der an der Wright State University lehrende Ökonom Tran Huu Dung, führen »Arts & Letters Daily« weiter.
© Wolfgang Koch 2010
+
Gestern ging der sogenannte Landowsky-Prozess am Berliner Strafgericht ins neue Jahr. Kurz vor Weihnachten war ein prominenter Zeuge geladen:
Berliner Bankgesellschaft
Edzard Reuter als Zeuge im Landowsky-Prozess
Der frühere Ehrenvorsitzende des Aufsichtsrats der Berliner Bankgesellschaft, Edzard Reuter, hat die umstrittenen Immobilienfonds verteidigt.
Im zweiten Prozess gegen Klaus Landowsky und elf frühere Manager der Bank erklärte er am Montag, die Immobilienfonds seien aus damaliger Sicht als lukratives Geschäft mit einer ausreichenden Risikovorsorge eingeschätzt worden. Reuter war damals Daimler-Benz-Chef.
Landowsky und die Mitangeklagten müssen sich im Zusammenhang mit Immobilienfonds der Bankgesellschaft vor dem Berliner Landgericht verantworten. Die Fonds sollen Verluste von mindestens 58 Millionen Euro eingebracht haben.
In einem ersten Prozess war Landowsky, früher Chef der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, im Jahr 2007 zu 16 Monaten Haft mit Bewährung verurteilt worden. Es ging damals um Millionenkredite, die die Berlin Hyp in den 90er Jahren dem Immobilienkonzern Aubis trotz hoher Risiken bewilligte.
Der Fall muss nun neu verhandelt werden, nachdem das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Urteil aufgehoben hatte.
rbb-online Nachrichten
+
Im neuen Jahr wird eine Ära zunehmender Wehrungerechtigkeit gemäß Kassenlage ausgesetzt. In letzter Zeit hat die Bundeswehr immer weniger von den jungen Männern zum Dienst verpflichtet, die tauglich gemustert waren. Spätestens zum Herbst erwarten die Universitäten einen nie gekannten Sturm auf ihre Immatrikulationsbüros. Werden sie ihm standhalten können? Die Süddeutsche meldete gestern:
Letzte reguläre Bundeswehr-Einberufung
Berlin (dpa) – Historischer Tag für die Bundeswehr: Nach mehr als 50 Jahren Wehrpflicht sind Tausende junger Männer zum letzten Mal regulär zur Bundeswehr eingezogen worden. Bundesweit wurden rund 12 000 Wehrpflichtige zum sechsmonatigen Dienst erwartet. Eine Sonderbehandlung für «Drückeberger» soll es trotz des Aussetzens der Wehrpflicht zum 1. Juli aber nicht geben. Das machte das Verteidigungsministerium deutlich. Bereits zum 1. März soll kein Soldat mehr gegen seinen Willen bei der Bundeswehr antreten.
+
Berliner Polizeibericht
Einsatzhundertschaft kontrolliert Café – Nervöser Kunde hat Drogen in der Hosentasche
Charlottenburg-Wilmersdorf, 4.1.
Reger Besucherverkehr in einem Internet-Café veranlasste Polizeibeamte gestern Abend in Wilmersdorf zum näheren Hinsehen.
Die Polizisten der 22. Einsatzhundertschaft entdeckten während der Streifenfahrt in der Wilmersdorfer Straße schnell fluktuierenden Kundenverkehr in einem Telecafé und begannen gegen 19 Uhr mit einer Überprüfung der Lokalität. Bereits beim Betreten der Ladenräume durch die Beamten wirkten zwei Männer auffallend nervös und versuchten sich zu entfernen. Bei der Überprüfung versuchten die 21- und 22-jährigen Tatverdächtigen immer wieder in ihre Taschen zu greifen. In den Hosentaschen des 21-Jährigen entdeckten die Polizisten insgesamt 45 verkaufsfertige, pulvrige Betäubungsmittelportionen in Kugelform, ein Mobiltelefon und etwa 400 Euro mutmaßlichen Handelserlös. Alles wurde beschlagnahmt. Der 21-Jährige hatte in seiner Jackentasche ein bereits aufgerissenes Kügelchen mit weißem Pulver versteckt und wurde nach einer Identitätsfeststellung wieder entlassen. Der 22-Jährige wurde wegen Verdachts des illegalen Handels mit Betäubungsmitteln der Kriminalpolizei überstellt und soll heute zum Erlass eines Haftbefehls vorgeführt werden.
+
Paul-Erik Bethke wieder da
Steglitz–Zehlendorf, 4.1.
Der seit dem 31. Dezember 2010 vermisste Paul-Erik Bethke aus Halensee ist wieder da.
Der geistig behinderte Mann hat gestern Abend Passanten in der Steglitzer Schloßstraße angesprochen. Diese nahmen den 33-Jährigen zu sich nach Hause und verständigten die Angehörigen. Er wurde gegen 21 Uhr von seinen Eltern aus der Wohnung in Steglitz abgeholt.
Der Mann hatte, wie berichtet, am 31. Dezember die Wohnung seiner Eltern in der Hektorstraße zu einem Spaziergang verlassen und war nicht mehr zurückgekommen.
Bisherigen Ermittlungen zufolge hat sich Paul in den letzten Tagen in einem Einkaufscenter in Charlottenburg aufgehalten. Anzeichen auf eine Straftat liegen nicht vor.
+
Die Königin der Mark
Gestern ist, nicht auf dem Schulzenhof, ihrem Lebensmittelpunkt in der zweiten Lebenshälfte, sondern in Berlin Eva Strittmatter gestorben. Nach dem Werk von Bobrowski schuf sie das zweite große Poesiewerk in der DDR. Zum Leben dieser Hohen Frau ein Extrablatt.
+
Letztes Wort
+
„I’ll finally get to see Marilyn.“ („Ich werde endlich Marilyn sehen.“) [gemeint ist seine Ex-Frau Marilyn Monroe]
Joe DiMaggio, US-amerikanischer Baseballspieler, 1999
Extrablatt
Eva Strittmatter starb gestern im Alter von 80 Jahren.
Hier eine Sammlung derzeit verfügbarer Texte aus dem Netz.
+
Nachruf des MDR
Literatur
Eva Strittmatter gestorben
Sie wollte mehr sein als nur die Frau eines berühmten Schriftstellers. Als Lyrikerin ist ihr das durchaus gelungen. Nun ist Eva Strittmatter im Alter von 80 Jahren gestorben.
Die Dichterin Eva Strittmatter ist tot. Wie der Verlag Das Neue Berlin mitteilte, starb die 80-Jährige, die auch als Kinderbuchautorin bekannt wurde, am Montag in einem Altersheim in Berlin. Sie war bereits seit längerer Zeit krank.
Strittmatter wurde 1930 in Neuruppin geboren. Nach einem Studium der Germanistik und der Romanistik arbeitete sie beim Deutschen Schriftstellerverband und beim Kinderbuchverlag der DDR. Seit 1954 war Strittmatter freie Schriftstellerin und veröffentlichte seitdem 14 Gedicht- und sechs Prosa-Bände. Ihre Gedichtbände tragen poetische Namen wie „Ich mach ein Lied aus Stille“ (1973) oder „Mondschnee liegt auf den Wiesen“ (1975). Ihre Hauptthemen waren Naturbeschreibungen, Gefühle und menschliche Haltungen. In Ostdeutschland erreichten die Gedichtbände von Eva Strittmatter Auflagen von über zwei Millionen Exemplaren.
Aus dem Nachruf des Verlages Neues Berlin
„Briefe aus Schulzenhof“
1956 heiratete sie den 18 Jahre älteren Schriftsteller Erwin Strittmatter. In ihren in drei Bänden veröffentlichten „Briefen aus Schulzenhof“ gab sie einen Einblick in das Leben des Schriftsteller-Ehepaares. In das Dorf Schulzenhof in Dollgow im Land Brandenburg hatten sich Erwin und Eva Strittmatter Anfang der 50er-Jahre zurückgezogen. Auch nach dem Tod von Erwin Strittmatter 1994 blieb die Mutter von vier Söhnen in Schulzenhof und verwaltete das Werk und den Nachlass ihres Mannes. Ihr letzter Gedichtband „Wildbirnenbaum“ erschien 2009.
Zuletzt aktualisiert: 04. Januar 2011, 15:36 Uhr
+
8.02.2010, Märkische Allgemeine
Sie macht ein Lied aus Stille
Zum 80. Geburtstag der Lyrikerin Eva Strittmatter
POTSDAM – Die fromme Legende will dies: Es waren einmal zwei auf dem Schulzenhof bei Gransee, die schrieben unter dem fröhlichen Wiehern der Pferde und dem Wandel der Jahreszeiten kernige Prosa und sensible Poesie, bis einer von ihnen nach langem Leben und ewiger Liebe starb – so dass nun die Witwe (jene mit der Poesie) die Erinnerung an diese Zweisamkeit festhält. Doch Eva Strittmatter, die heute 80 Jahre alt wird, ist keineswegs lediglich „die Frau von Erwin Strittmatter“. Was von der Legende aber bleibt – welche eher von den Lesern im Geiste mitgeschrieben als von dem doch sehr unterschiedlichen Autorenpaar behauptet wurde – ist selbst in ihrem jüngsten Gedichtband „Wildbirnenbaum“ etwas zutiefst Reales. Und das heißt immer auch: etwas Schmerzvolles, Widerständiges, dem Schweigen und dem Alter (oder dem Alltag) skrupulös Abgerungenes.
Eva Strittmatter veröffentlichte mit 43 Jahren ihren Band „Ich mach ein Lied aus Stille“ – „zu einer Zeit also, wo die meisten aufgehört haben, Gedichte zu schreiben“. Und jetzt? Noch immer liedhaft der Ton, noch immer klar und tapfer, wenn auch ohne jede programmatische Dürre: „Zu Ende leben – Das ist es, was noch übrigbleibt./ Doch unterirdisch läuft ein Beben,/ Das oberirdisch Zeilen schreibt.“
Vermutlich gibt es in der deutschen Nachkriegsliteratur keinen Fall, in dem eine Lyrikerin ähnlich populär war – und dies bis heute ist. Freilich gilt dies für den Westteil des Landes weniger als für den Osten, wo Eva Strittmatter eine treue Lesergemeinde besitzt. Doch die Strenge im Aufbau des gereimten Gedichts macht keine Konzessionen an einen wie auch immer dürstenden Publikumsgeschmack: „Ich würde meine Kinder Steine essen lassen./ Nur um zwei Worte zu Papier zu bringen.// Es brandet gegen mich. Wird mich verschlingen.// Geboren wird der Vers als Schrei.// Ihr aber hört mich singen.“
Eine Gestimmtheit ist dies, die sich der politischen DDR-Grammatik – Staatstreue hier, Dissidenten da – verweigerte und Fragen von anderer, existienzieller Dringlichkeit stellt. Es war deshalb durchaus eine Enttäuschung, in Eva Strittmatters Buch-Gespräch mit der Literaturkritikerin Irmtraud Gutschke allerlei Töricht-Ärgerliches zum verdienten Ende der inhumanen SED-Diktatur lesen zu müssen. Andererseits: War und ist nicht die Zimmerlautstärke in ihren Gedichten, die Sorgfalt und Genauigkeit der Wahrnehmung das beste, weil ästhetisch berückende und durch und durch zweckfreie Gegengift gegen jegliche Ideologie und Gewaltherrschaft?
Der Autor dieser Zeilen gesteht deshalb gern, dass er (wahrscheinlich wie unzählige andere) hier in großer Dankesschuld steht. In Jahren immenser Bedrängnis aufgrund von Hochschulverbot, Wehrdienstverweigerung und diversen Vorladungen bei der Staatssicherheit war es nämlich Eva Strittmatter, die ihn mit ihren Büchern und handgeschriebenen Briefen aus Schulzenhof die Gewissheit eines Raums gab, in welchem die Wörter nicht bellten, sondern gesprochen, ja gesungen wurden. Dass auch Schulzenhof in der ummauerten DDR kein Refugium war – die Dichterin hat es häufig bekannt. Darauf aber kommt es letztlich nicht an. Was zählt, ist der Lebensmut und die literarische Kraft, sich von den diversen Gebirgen des Nicht-Sagbaren nicht einschüchtern zu lassen und Zweifel in Worte und Beklemmung in Schönheit zu verwandeln. Dieser großen und auch keinesfalls widerspruchsfreien Verwandlungskünstlerin wird nicht nur heute von ihren Lesern alles Gute gewünscht werden, denn wer könnte je Strophen von solcher Intensität vergessen: „Ich mach ein Lied aus Stille./ Ich mach ein Lied aus Licht./ So geh ich den Winter./ Und so vergeh ich nicht.“
info Marko Martin (40) lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. 2009 erschien sein Erzählband „Schlafende Hunde“ (Eichborn). (Von Marko Martin)
Märkische Allgemeine
+
Ihr letztes Buch
Kulturportal Brandenburg
Buch des Monats Februar 2010
Wildbirnenbaum
Eva Strittmatter: Wildbirnenbaum
Aufbau-Verlag 2009, 135 Seiten, 18,95 Euro
ISBN 978-3-351-03273-9
Internet: www.aufbau-verlag.de
Am 8. Februar 2010 wurde die Lyrikerin Eva Strittmatter 80 Jahre alt. Im Gedichtband „Wildbirnenbaum“ finden sich unveröffentlichte Gedichte aus vier Jahrzehnten ihres Schaffens.
Konzentriert wie nie zuvor zeigt der Band die Spannung zwischen Leben und Poesie – als Motiv und Preis der Gedichte. Eva Strittmatters Themen haben mit ihrem Alltag zu tun, mit ihrer Rolle als Mutter, Frau und Dichterin und mit den Zwängen, denen sie sich ausgesetzt sieht. Darüber spricht sie mit jener Offenheit, die für ihre Gedichte so bezeichnend ist. Sie treibt die rigorose Selbstbefragung bis zum Tabubruch. Mit eruptiver Kraft kommt zur Sprache, was sie bedrängt.
Ein tolles Lesebuch, um das Warten auf den Frühling zu verschönern.
Leseprobe:
REISEN
Und wieder bin ich eine andre:
Ich fliege über Straßen hin
Und fahre fremd durch fremde Städte.
Abflaut der Morgen. Und ich bin.
+
FLUCHT
Ich will drei Jahre lang schweigen.
(Nicht wirklich. Nur im Gedicht.)
Ich will mich übersteigen
Und leiste den Verzicht
Auf die billige Selbsthypnose,
Die tägliche traurige Flucht
In Verse. (Geheime Narkose
Und allesverzehrende Sucht,
Meine Träume zum Tanzen zu bringen,
Als Ersatz und Scheindasein.)
Und kann ich, so will ich mich zwingen
Und ich will nicht mehr nach dir schrein.
+
+
„Ich mach ein Lied aus Stille“ – Eva Strittmatter im Zwiegespräch mit Irmtraud Gutschke
von Stefan Groß
Eigentlich sollte es ein Zwiegespräch sein, ohne ihn, Erwin Strittmatter. Eigentlich. Doch so sehr Eva Strittmatter, mit väterlichem Namen Eva Braun, versucht über sich selbst zu sprechen, spricht sie auch immer über ihn. Es muß eine merkwürdige, oft befremdlich anmutende Ehe gewesen sein, die sich zwischen den beiden Schriftstellern abspielte. Es war aber auch eine innige Liebe, eine, die im Wechselspiel der Gefühle stand und steht, die immer wieder um Versöhnung kreiste, zumindest von Evas Seite, die versuchte die Verletzungen, die kleinen, aber immer wieder auftretenden Narben und Wunden zu heilen. Haß und Liebe – auf diesen Nenner bringt Eva Strittmatter dann auch ihre Beziehung zu Erwin nach dessen Tod. So sehr er sie immer wieder mit anderen Frauen betrog, so sehr er sie für seinen Ruhm opferte, die nunmehr 79-jährige Schriftstellerin, die im Schulzenhof an den Rollstuhl gefesselt lebt, bekennt sich zu ihm. 15 Jahre nach seinem Tod, der Altersunterschied betrug nicht unbeträchtliche 18 Jahre, ist Erwin immer noch die große Liebe, eine Liebe mit Schatten. In Leib und Leben, einem Interview-Band, der im Verlag Das Neue Berlin nunmehr vorliegt, zieht Eva Strittmatter Bilanz, Bilanz über ein Leben, das sie nicht für sich gelebt, das sie für andere gelebt hat, für ihren Mann, für ihre Kinder. Es wird deutlich: Sie war verliebt in einen, der nur sich kannte, der keine Kinder wollte, der ihrem Arbeiten kritisch und eifersüchtig gegenüberstand, der jähzornig war und nicht verzeihen konnte. Er war der große Schriftsteller an der Seite Brechts, der als Politkader und bekennend-überzeugter DDR-Bürger seinen Erfolg in und mit dem Sozialismus feierte. Strittmatter war einer, den Liebschaften beflügelten, der die Musen suchte; und der dennoch Eva brauchte, die ihm Geborgenheit gab, die sein Leben sortierte und ordnete. Dabei war Strittmatter kein angepaßter, sondern ein überzeugter Kommunist, der auch kritische Töne gegenüber dem Regime anschlug, einer dem die DDR die Existenz bot, zum Schreiben und zum Arbeiten, einer, dem der Sozialismus die Themen und den Stoff lieferte, ihm, dem Bauernsohn, der sich zu seinem literarischen Realismus bekannte und den Eva wegen dieser titanischen Kraft und genau wegen dieser dämonisch-literarischen Existenz liebte. Sie liebte den Dämon, der auch liebenswürdig sein konnte, der sie bisweilen auch lobte.
Wie Thomas Mann war Strittmatter egomanisch, zentrierte die Kräfte auf sich, ordnete seine Lebens- und Arbeitswelt auf sich als den innersten Kreis aller Kreise – für Eva blieb wenig Zeit, für ihre eigene literarische Produktivität noch weniger Raum.
Ungleich war die Partnerschaft, ungleich die Verteilung der Rollen, die Unterordnung der einen, die Selbstinszenierung des anderen. Eigentlich träumte die 1930 in Neuruppin geborene Eva, die die Zeit des Nationalsozialismus, wie sie selbst bekennt, als glückliche Zeit empfand, weil sie die Zeit ihrer Jungend und ihres lyrischen Erwachens und Erwachsenwerdens war, von einer bürgerlichen Existenz, wünschte sich einen Arzt, der sie aus den ärmlichen Verhältnissen, in die sie hineingeboren war, befreite, der sie in eine Traumwelt entführte. Doch was sie bekam, so hält sie resümierend fest, war ein Rustikaler, der das Vulgäre seines Milieus kultivierte. In einer bücherfeindlichen Kinderwelt aufgewachsen, gegen den Alkoholismus des Vaters resignierend ankämpfend, hat sie Conrad Ferdinand Meyer, Droste-Hülshoff und Rilke entdeckt. Und tatsächlich klingen ihre Gedichte oft nach diesen Vorbildern.
Für viele war die Lyrikerin, die mit Ich mach ein Lied aus Stille (1973) und Mondschnee liegt auf den Wiesen (1975) zum ersten Mal für sich und ihr Schaffen Aufmerksamkeit erzielte, zu traurig, zu weltverloren, zu still. Auch im Interview mit Irmtraud Gutschke, das diese 2008 mit der durch einen Bandscheibenvorfall 1998 körperlich stark eingeschränkten Dichterin führte, bekennt sich Strittmatter zu Stille und Einkehr, zu einem zurückgezogenen Leben und zum Rückzug in die Natur. Eigentlich war es immer die Natur, die Einsamkeit, die sie in den wenigen freien Minuten kultivierte, die sie am Leben hielt, die die Schwere ihres Schicksals kurzweilig aufbrach. Diese kurzweilige Unbekümmertheit, diese Suche nach dem Land ihrer Träume, dies wurde ihr zum Geheimnis künstlerischen Schaffens. „Ich muß etwas tun, ich muß eine Schale sprengen. Ich kann mich nur befreien durch Sprache, nur durch Worte kann ich mich befreien“. Weltinnenraum nannte dies Rilke, dieses Leben aus sich im Ganzen. Einsamkeit, das genaue Betrachten und Anschauen, das Nachfühlen der Natur, dies sind die großen Themen von Strittmatter, darin finden sich persönlichste Erfahrungen und Erlebnisse gebündelt in das symmetrische Versmaß, von dem sie nicht abrückte, das ihr gleichsam den Fluß und die Ordnung ihrer Gedanken vorgab, den zweifellos melodischen Klang.
Versmaß und Rhythmus – verbunden mit den leisen Tönen, den Worten, die nach dem Unfaßbaren und Unsagbaren ringen, dieses Schreiben aus der Stille war es, das ihr Kritiker zum Vorwurf machten, um sie dann als naiv abzustempeln, als unzeitgemäß und apolitisch.
Es sind die großen Themen von Leben, Tod, Sterben und das Zwischendurch, die Strittmatter immer wieder aufgreift, das Wechselbad von Gefühlen und Ängsten, das Bekenntnis zum Freilegen der innersten und subjektivsten Gedankengänge, die ihre Gedichte auszeichnen, die sie zeitlos werden lassen. Dabei sind sie alle Augenblicksschöpfungen, Momentaufnahmen, die das versprachlichen, was andere verschweigen, weil es sie bloßstellen könnte.
Diese Momentaufnahmen wurden zum eigentlichen Feld der schriftstellerischen Betätigung, nie dachte Strittmatter daran Romane zu schreiben, wenngleich sie diese Fähigkeit ihres Mannes bewunderte, „aus dem Lebensmaterial etwas so zu verdichten, daß eine andere Welt entsteht, eine andere Sichtweise, eine Gegenwelt zu der tatsächlich gelebten.“ Sie hingegen reizte beim Schreiben das tatsächliche Erleben, das ihr nicht nur die Einsamkeit der Natur, sondern auch die Einsamkeit in der Beziehung ermöglichte. „Das Gedichteschreiben wurde dann zu einer Art Lebenssystem, einer Lebensform über Jahrzehnte. Und das war nur unter bestimmten Bedingungen möglich – dieses Verdichten, dieses Entäußern, so explosiv, so stark, wie das am Anfang war. Wenn man etwas zu sich heran- und aus sich herausholt, wenn sich aus einer Initialzündung Sätze formen, ein rhythmisches System, ein Reimsystem, ein System von Zeilenlängen und von Beziehungen der einzelnen Zeilen zueinander. […] Kurz gesagt, man hat verschiedene Systeme zur Verfügung ein Gedicht aufzubauen, die Sprach zu wandeln, den Reim. Das ist ein Vergnügen, das ist eine Kunstfertigkeit, die sozusagen darunterliegen. Aber das, was das Gedicht ausdrückt, muß erst einmal ganz elementar, ganz stark sein. Die Empfindung muß unbedingt einen adäquaten Ausdruck finden. Einen unverkrampften, unverstellten Ausdruck. Wie sich das herstellt, ist eine spannende Sache und eine große Freude: eine Konstruktion zu beherrschen und zu realisieren.“
Endzeitstimmung und existentielle Bedrohungssituation – sie waren oft der Anlaß ihrer Lyrik, Stimmungen, die eine Feinabstimmung der Seele voraussetzen, Empathie und Sensibilität, ein In-die-Dinge-Treten, um sie plastisch und lebendig in die Sprache zu setzen. So heißt es in ihrem Gedicht Vor einem Winter: „Ich mach ein Lied aus Stille / Und aus Septemberlicht. / Das Schweigen einer Grille / Geht ein in mein Gedicht. / Der See und die Libelle. / Das Vogelbeerenrot. / Die Arbeit einer Quelle. / Der Herbstgeruch von Brot. / Der Bäume Tod und Träne. / Der schwarze Rabenschrei. / Der Orgelflug der Schwäne. / Was es auch immer sei, / Das über uns die Räume / Aufreißt und riesig macht / Und fällt in unsre Träume / In einer finstren Nacht. / Ich mach ein Lied aus Stille. / Ich mach ein Lied aus Licht. / So geht ich in den Winter. / Und so vergeh ich nicht.“
Es ist eben jenes existentielle Ringen und Hadern mit sich, das Strittmatters Lyrik auszeichnet, das die Gedichte Erlebnisverdichtungen werden läßt, zu intensiven Arbeitsvorgängen, die sie sich intensiv suchte, zu denen es sie aus tiefsten Innerem hinzog, ein dämonischer Drang zum Schreiben beflügelte sie, ohne den sich bei ihr das Gefühl von „Nicht-Gelebthaben“, von „Nicht-Leben“ einstellte. „Die Nerven vibrierten. Ich konnte mit mir selber nicht existieren, wenn ich nicht so ein Ventil fand in einem Gedicht.“
Strittmatter fühlte sich, so bekennt sie offen, auf öffentlichen Podien nicht wohl, das Redenhalten fiel ihr schwer, sie hatte Beklemmungen, wenn sich die Augen auf sie richteten. Allein die Geborgenheit im Schulzenhof und die Einsamkeit ihrer lyrischen Existenz ermöglichten es ihr, sich in einen Kosmos hineinzudenken, von diesem alles ein- und anzusaugen, damit dieser für sie zu einem Gefühl wird, das gleichzeitig Sprache ist. Auch nach dem Tod Erwins 1994 dachte sie nicht daran, die lieb gewordene märkische Heimat aufzugeben und zu verlassen.
Natürlich informiert das Zwiegespräch von 2008 auch über die Zeit in der DDR, die Ausbürgerung Biermanns, die Aufdeckung der NS-Verstrickung von Erwin Strittmatter, den Fall der Mauer und den Umgang mit der neuen Freiheit.
Was bleibt ist Strittmatters Bekenntnis zur DDR, einer Zeit, in der sie schreiben konnte. Auch für Erwin Strittmatter war seine persönliche Existenz als Schriftsteller vom realen Sozialismus geprägt, gab ihm den Stoff, der ihm, wie auch manch anderem, so auch Heiner Müller, nach dem Zusammenbruch und dem Mauerfall abhanden gekommen ist. Auch Eva Strittmatter war verstummt, der „Trockenheit der Seele“ ausgeliefert. Doch: Wie das Zwiegespräch auch zeigt: Strittmatter faßt wieder Mut, hat die Hoffnung, daß sich wieder etwas für sie öffnet. So hält sie auf den letzten Seiten fest: „So wie wir jetzt hier miteinander reden über Tage und Wochen, das inspiriert mich so, daß ich hoffen kann. Es wird vielleicht noch mal passieren, daß ich wieder etwas Konzentriertes schaffe. Das wäre es, was ich mir am allermeisten vom Leben wünsche. Es ist ein solches Außer-sich-Sein, wenn ich mich sozusagen in meine Geheimwelt versetze. Ich sehne mich danach.“ So bleibt ihr zu wünschen, ihr, die sich gerade mit Gottfried Benn beschäftigt, ihr der man nachsagte eine Nachfolgerin Benns zu sein, und die bekennt, daß ihm seine gereimten Gedichte besser gefallen, weil sie ganz nah am Volkslied sind, die Stille und Menschlichkeit atmen, daß sie die Kraft und Herausforderung findet, wieder intensiv schöpferisch tätig zu sein. Von sich selbst sagt sie: „Ich habe das Gefühl, daß ich wieder herausgefordert bin, die Dinge so intensiv und so lange anzusehen, daß sie zu mir sprechen. Ich denke, daß ich jetzt wieder in eine so enge Beziehung zu den Bäumen, den Blumen, den Gräsern, zu allem um mich herum getreten bin, daß ich mich verändert habe: Ich ähnele mir wieder. Ich habe mir auch seit Monaten verboten, in meinen Briefen irgendwelche Betrübnisse aufzuschreiben, zu klagen über meinen Zustand, über meine Lebenssituation. Ich möchte mitteilen, daß ich mich gut fühle. Dass ich glücklich bin. Das ist in meinen Jahren eine große Sache. Und dazu würde noch gehören, daß es mir gelingt noch zwei oder drei oder vier kleine Poesien zu machen.“
Erschienen in tabula rasa, Die Kulturzeitung aus Mitteldeutschland, Ausgabe: No 41 (7/2009)