15.1.
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Tote Frauen in der Spree
An Ostern vor drei Jahren trieb eine Frauenleiche in der Spree, traurige Tradition fortsetzend:
Russische Dissidentin
Die Frau aus der Spree
Anna Michaltschuk.
Schleusenwärter fanden die Leiche der vermissten Russland-Kritikerin Anna Michaltschuk in der Spree. Seit Karfreitag war sie spurlos verschwunden. Die Polizei spricht von Selbstmord. Ein Nachruf.
Drei Wochen lang hat Michail Ryklin auf ein Lebenszeichen seiner Frau gewartet. Nun wurde sie gefunden: Eine Tote in der Spree. Am Karfreitag war die Künstlerin Anna Michaltschuk, 52, nachmittags aus der Tür der Wohnung des russischen Paares am Charlottenburger Spiegelweg gegangen. Sie wollte einkaufen gehen in einem russischen Laden um die Ecke, der an diesem Feiertag geöffnet war, denn das orthodoxe Ostern liegt später. Michaltschuk hatte ihre Schlüssel mitgenommen und ihre Handtasche, das Handy hatte sie zuhause gelassen. Kurz ehe sie ging, traf sie am Telefon noch Verabredungen mit zwei Freundinnen für den kommenden Tag. Doch Anna Michaltschuk kam nicht zurück in die Ehewohnung.
Sie meldete sich nicht. Ihr Mann wartete bis Mitternacht, dann rief er die Polizei.
Seit dem Tag fehlte jede Spur. Es gab keinen Brief von ihr, keinen Zettel, keinen Anruf, man fand keinen Schuh oder Schal – nichts. Mit Spürhunden und mehr als neunzig Beamten suchte die Polizei die gesamte Gegend ab, Hinterhöfe, eine Kleingartenkolonie. Taucher begaben sich vergebens auf den Grund des Lietzensees. Drei Wochen nach ihrem Verschwinden, am gestrigen Donnerstagvormittag, sahen Schleusenwärter nahe der Mühlendammbrücke in Berlin-Mitte eine Frauenleiche und alarmierten die Polizei. Diese benachrichtigte Michail Ryklin, man brachte ihn zu der Toten. Der Ehemann hat seine Frau wieder erkannt. Für den sechzigjährigen Ryklin, der seit über drei Jahrzehnten mit Michaltschuk verheiratet war, haben Warten und Unsicherheit ein Ende.
Auch wenn die Ergebnisse der Obduktion noch abgewartet werden müssen, die Kriminalpolizei geht jetzt davon aus, dass der Tod von Anna Michaltschuk selbst beigebracht war. Sie wurde also, anders als Ryklin befürchtet hatte, offenbar nicht Opfer eines politisch motivierten Verbrechens. Indirekt jedoch, das sagen Freunde des Ehemannes, habe auch die politische Lage in Russland bei diesem Tod mitgespielt.
Anlass zu der Befürchtung, dass es sich beim Verschwinden Michaltschuks um eine Tat von russischen Geheimdienstagenten oder anderen „patriotischen, nationalistischen“ Kräften gehandelt haben könnte, gab es reichlich, wie Ryklin fand. Schon am Tag nach ihrem Verschwinden hatte er an die Ermittler einen Brief mit der Bitte gerichtet, die Fahndung zu intensivieren, da ein politischer Hintergrund nicht auszuschließen sei. „Die jüdische Abstammung von Frau Michaltschuk, hat Frau Michaltschuk in der Vergangenheit immer wieder Opfer von antisemitischen Pöbeleien werden lassen“, schrieb er, und wies hin auf eine Ausstellung, an der Anna Michaltschuk unter ihrem Künstlernamen Anna Altschuk im Januar 2003 teilgenommen hatte.
„Achtung, Religion!“ hieß die vom Moskauer Sacharow-Center beherbergte Schau, die zum Ziel von Attacken aus gewaltbereiten nationalistisch-antisemitischen Kreisen wurde. Sie verwüsteten die Ausstellung und kamen damit davon. Unter Anklage fanden sich stattdessen die Künstler und Kuratoren. Sie hätten „nationalen und religiösen Zwist“ geschürt, hieß es in der Anklage. Ryklin schrieb dazu an die Polizei: „Der Prozess und die Prozessführung wurden in der internationalen Presse scharf kritisiert, Menschenrechtsorganisationen haben erwirkt, den Fall vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen. Im Zuge dieses Prozesses kam es zu einer Fülle von Anfeindungen und Bedrohungen gegenüber Frau Michaltschuk.“ In Moskau hatten sie keine Ruhe mehr. Hasspost und Drohanrufe begleitete das Paar, anonyme Stimmen rieten den Eheleuten, sich aus Russland zu entfernen, man drohte ihnen an, „das Haus nicht mehr sicher verlassen zu können.“
Anna Michaltschuk, Dichterin, Fotografin und Performance-Künstlerin, ertrug diesen Druck nur mit großer, seelischer Anstrengung und begleitete daher gern ihren Mann, als dieser im November 2007 eine Gastprofessur an der Berliner Humboldt-Universität antrat. Der Philosoph forscht und unterrichtet dort noch bis November 2008 am Fachbereich Slawistik. Doch seine Frau, die die deutsche Sprache nicht verstand, sehnte sich auch nach einem Moskau, das es gar nicht mehr gab. In einer Sendung des Deutschlandfunks vor zwei Jahren sagte sie über das veränderte Russland: „Es sind eine Menge Tabus entstanden. Für einen Intellektuellen ist das eine völlig unannehmbare Situation. Ein Tabu ist zum Beispiel der Krieg in Tschetschenien. Und uns wurde sehr deutlich vor Augen geführt, dass auch die russische orthodoxe Kirche ein Tabu ist. Ein Tabu ist auch das Handeln unseres Präsidenten. Das sind die Dinge, die die Leute lieber nicht diskutieren.“
So habe sie sich ins Private zurückgezogen, gab sie an, und frühere Idole verloren. „Ich lese jetzt nur noch das, was mir nahe steht. Solschenizyn zum Beispiel lese ich nicht mehr. Ich halte viele seiner Äußerungen für nationalistisch.“ Enttäuschungen über die neuen Schrecken und Schatten des russischen Regimes wurden immer häufiger. Die 1955 auf der Insel Sachalin geborene Tochter von Geologen hatte ihren Mann bereits mit zwanzig Jahren geheiratet, und gemeinsam waren sie durch alle Phasen der sowjetischen und russischen Entwicklung gegangen. 1987, als die Perestroika einsetzte, organisierte Michaltschuk Lesungen für bis dahin verbotene Autoren und Philosophen, es schien Neuland gewonnen, ein Aufbruch möglich.
Als dann der wieder erstarkende Nationalismus auftrat, im Verein Antisemitismus und manifesten Drohungen, und als die Bedrohung direkt bei ihr zu Hause ankamen, war die eher schüchterne, schmale Frau davon wohl tiefer verstört, als sie selber es wahrhaben wollte und ihre Freunde es bemerken konnten. „Auch wenn sie Hand an sich gelegt hat“, sagt eine Freundin in Berlin, „hat doch die politische Lage in Russland diese Künstlerin mit auf dem Gewissen.“ (11.4.2008, tsp., Caroline Fetscher)
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Berliner Polizeibericht
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Schüler an Stuhl gefesselt und geschlagen
Tempelhof-Schöneberg, 14.1.
Ein 14-Jähriger Schüler soll am vergangenen Mittwoch in Tempelhof während der Schulpause von Mitschülern an einen Stuhl gefesselt und anschließend geschlagen sowie getreten worden sein.
Am gestrigen Tage erschien die 48-jährige Mutter bei der Polizei und zeigte den Beamten an, dass ihr Sohn am 12. Januar gegen 12 Uhr 30 von fünf Mitschülern während der Pause mit einem Klebeband an einen Stuhl gefesselt wurde. Anschließend schlugen ihn seine Klassenkameraden mehrmals gegen den Nacken. Als der Junge sich von seinen Fesseln befreien wollte und dabei mit dem Stuhl ins Kippeln geriet, trat einer der Klassenkameraden gegen das Stuhlbein, so dass der Junge mit dem Stuhl umkippte. Am Boden liegend erhielt er einen Fußtritt gegen den Oberkörper. Nachdem einige Mitschülerinnen einschritten, befreite einer der Tatverdächtigen den 14-Jährigen von seinen Fesseln. Der Junge blieb nach Auskunft der Mutter unverletzt. Ein Kriminalkommissariat der Polizeidirektion 4 führt die Ermittlungen zum genauen Tathergang sowie den Beweggründen der Täter. Der zuständige Präventionsbeamte wird die Gespräche mit der betroffenen Schulklasse und – Leitung führen.
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Letztes Wort
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Kaì éstin he-môn eis autòn húto, „Jetzt lebt wohl und erinnert euch an alle meine Worte.“) [zu seinen Schülern]
Epikur, griechischer Philosoph, 270/271 v.u.Z.
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