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Traumforschung: Wenn Taubstumme träumen
Der Schlaf der Vernunft erzeugt Bewegungsspielräume: Behinderte sind nicht fixiert auf das, was sie nicht können – das belegt jetzt eine bemerkenswerte Studie zum Verhältnis von Wirklichkeit und Traum.
Über den Traum herrschen seit Jahrtausenden denkbar entgegengesetzte Ansichten. Die Welt der Wachheit sei eine gemeinsame, die des Traums eine je eigene, heißt es. Aber auch das Gegenteil wird gesagt: Im Traum steigen kollektive Ängste und Wünsche auf. Als der junge Cäsar träumt, er habe mit seiner Mutter geschlafen, beruhigen ihn, so steht es bei Sueton, die Traumdeuter: Es sei die Erde, ihm winke die Weltherrschaft. Psychoanalytiker neigen umgekehrt dazu, aus der Erde die Mutter zu machen. Mal gilt der Traum als Prophetie, mal als Wunscherfüllung, mal als Fortsetzung des Tages.
Eine Studie von Forschern aus Bonn, Mainz, Frankfurt und Harvard hat jetzt überraschende Befunde zum Träumen und Traumdeuten vorgelegt (Ursula Voss, Inka Tuin, Karin Schermelleh-Engel und Allan Hobson, „Waking and dreaming: Related but structural independent“, in: Consciousness and Cognition 2010; doi:10.1016/j.concog.2010.10.020). Ihr zugrunde liegen Träume von nichtbehinderten Personen im Vergleich zu solchen, die von Geburt an taubstumm oder gelähmt sind. Zwei Woche lang schrieben die Probanden ihre Traumerinnerungen nieder, und sie beantworteten Fragen dazu.
Dabei zeigte sich, dass beispielsweise Taubstumme zwar öfter von sich selbst und öfter die Farbe Blau träumen als die Nichtbehinderten, dass aber „Sprechen“ und „Hören“ oder vergleichbare Sachverhalte, die man auf ihre Behinderung beziehen kann, bei ihnen kein häufigeres oder selteneres Traummotiv sind. Auch von Geburt an Taube träumen also von Musik, der Stimme ihres Vaters, Stille oder einem Knall.
Dasselbe galt für Gelähmte, die nicht öfter und nicht seltener als voll Bewegungsfähige im Schlaf von eigenen Bewegungen (Laufen, Rennen, Fliegen) träumen. In nicht einem einzigen Traum erschien der Träumende sich selbst als gelähmt. Träume, in denen jemand an einen Rollstuhl gefesselt war, wurden nur von Nichtbehinderten geträumt, kam ein Rollstuhl bei den Behinderten vor, so stand er nur herum oder der Träumer konnte sich aus ihm erheben. Träume, in denen Taubstummheit eine Rolle spielte – immerhin gut zwanzig Prozent aller aufgezeichneten Träume -, waren immer Träume von Leuten, die hören und sprechen können.
Das erklärt teilweise auch die Ergebnisse eines weiteren Versuchs, den die Forscher machten, diesmal mit Traumdeutern. Jeweils ein Psychoanalytiker, ein Verhaltenstherapeut, ein nicht-klinischer Psychologe und ein Laie sollten aufgrund eines Traumprotokolls, in dem eine Behinderung erwähnt wurde, entscheiden, ob es sich um den Traum einer behinderten oder nichtbehinderten Person handele. Damit sollte der Vermutung nachgegangen werden, dass Erzähleigenschaften der Träume einen Hinweis auf den Träumer bieten. Kein Traumdeuter aber war verlässlich in der Lage, eine Behinderung zu erschließen. Die beiden klinischen Psychologen schnitten am schlechtesten ab.
Ein Grund dafür dürfte in der doppelten Überraschung der Traumprotokolle liegen: Sie passen weder zur These, Träume setzten die Wirklichkeit fort, noch zur entgegengesetzten, Träume seien Wunscherfüllungen. Denn ein integraler Bestandteil der Wirklichkeit von Behinderten, ihre Behinderung, kommt in den Träumen manifest nicht vor und ließ sich auch nicht von den Fachleuten für latente Hinweise ermitteln. Die sensorische Welt des Traumes ist also einerseits abgekoppelt von der tatsächlichen. Nicht einmal die Art, wie Taubstumme über Sprech- und Hörerfahrungen im Traum berichten, erlaubt Schlüsse auf ihre Taubstummheit. Dasselbe gilt für Bewegungsträume von Gelähmten.
Andererseits aber träumen die Behinderten auch nicht signifikant öfter von der Außerkraftsetzung dieser Wirklichkeit. Sie sind also auch nicht auf das fixiert, was sie im Wachleben nicht können und wovon sie wissen, dass sie es nicht können. Träume dienen insofern keiner spezifische Kompensation. Ihre Eigenart besteht vielmehr darin, so formulieren es die Forscher, sensorische Erfahrungen ohne visuelles Feedback für die Körperbewegung zu erlauben oder ohne die Rückmeldung durch andere, dass man auch tatsächlich etwas gesagt hat. Der Schlaf erlaubt also Wahrnehmungen, die nur durch die Vorstellungskraft begrenzt sind.
Wie aber kommen überhaupt von Geburt an Taubstumme oder Gelähmte zu einer Vorstellungskraft, die Sprechen, Hören und Gehen einschließt? Bei den Gelähmten mag man noch sagen: Sie sehen, wie sich andere bewegen und versetzen sich, träumend, in sie. Aber die Taubstummen? Die Forscher vermuten, untechnisch gesprochen, dass jene mit einem Teil ihres Gehirns träumen, der nicht behindert ist, sondern die entsprechenden vorbewussten Wahrnehmungsmuster enthält. Sprechen und Hören wären, wenn sich diese Hypothese einmal bestätigen würde, gewissermaßen angeborene Ideen.
Hobbes, Locke und Leibniz
Damit wäre auch ein alter Streit um die empiristische Erkenntnistheorie entschieden. Philosophen wie Thomas Hobbes und John Locke hatten im siebzehnten Jahrhundert die Formel geprägt: „Nichts ist im Intellekt, was nicht vorher in den Sinnen war“. Dem hatte Gottfried Wilhelm Leibniz entgegengehalten: „Nichts ist im Intellekt, was nicht vorher in den Sinnen war, außer dem Intellekt selber“. Es ist eine besondere Pointe, dass eine Studie zum Schlaf des Intellekts die abschließende Formel nahelegt: Nichts ist im Intellekt, was nicht vorher in den Sinnen war, außer dem Intellekt – und den Sinnen selber.
Text: F.A.Z.
Von Jürgen Kaube, 22. Dezember 2010
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Seit gestern fahren Giga-Liner mit 25 Metern Länge (statt 18,75) durch halb Deutschland, nämlich Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen.
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F.W. IV. in einem Brief an Bunsen: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.“
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Eingedenk vergangener Katastrophen (wörtlich Abschwünge), hoffend kommender Anastrophen (Wenden zum Besseren, Tolkien sprach von Eukatastrophe = Wendung zum Guten)
Das neue Jahr beginnt und bei aller Freude sollten nicht die Menschen vergessen werden, die in dieses Jahr 2011 gehen mussten ohne ihre angehörigen Freunde und Verwandte, welche durch das Erdbeben in Haiti, die Massentragödie bei der Love Parade in Duisburg und bei vielen anderen Gelegenheiten unerwartet binnen Jahresfrist zu Tode gekommen waren.
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Letztes Wort
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„Le premier pas vers la philosophie, c’est l’incredulité.“ („Der erste Schritt zur Philosophie ist die Ungläubigkeit.“)
Denis Diderot, französischer Schriftsteller, 1784
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