berliner abendblätter 2.00 am 17.1.

17.1.
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Tunesien und soweiter
Zwei Dutzend Demonstranten sollen nach der Ausreise Ben Alis nach Saudi-Arabien vor der tunesischen Botschaft in Kairo getanzt haben. Es sollen Ägypter gewesen sein. Sie riefen: „Präsident Mubarak, auch auf dich wartet ein Flugzeug.“ Die arabische Welt wird vielerorts von DDR-Verhältnissen geknebelt: Meinungsfreiheit, Menschenrechte im Allgemeinen, Gerechtigkeit werden geknebelt und gebeugt. Beginnt jetzt das, was vor gut zwanzig Jahren den sogenannten Ostblock hinwegfegte? Außer in Ägypten zeigten sich im Jemen, in Jordanien und Algerien Zeichen der Insubordination. Wo liegen die Perspektiven? Wer rückt ins Machtvakuum nach? Für Tunesien wartet Rachid al-Ghannouchi auf seine Stunde. Er kündigte in einem Interview an, dass er sich auf seine Rückkehr nach Tunesien vorbereite und gewillt sei, sich an einer Übergangsregierung von Fouad Mebazaâ zu beteiligen. Rachid al-Ghannouchi ist Führer der verbotenen islamischen Nahda-Bewegung (vormals Mouvement de la Tendence Islamique, MTI), die als die größte islamistische Partei Tunesiens gilt, er gilt als „begeisterter Anhänger der Hamas“, die ihn als Theoretiker schätzt und als einen der Ihren betrachtet. In den USA hat er ein Einreiseverbot.
Dazu ein Extrablatt mit dem wikipedia-Artikel al-Ghannouchis.
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Besonderheit in Westminster
Frühere anglikanische Bischöfe zu katholischen Priestern geweiht
Drei ehemalige anglikanische Bischöfe sind am Samstag in der Kathedrale von Westminster zu katholischen Priestern geweiht worden. Kurz zuvor hatte die Glaubenskongregation des Vatikan die Errichtung eines Personal-Ordinariats für England und Wales bekannt gegeben, einer besonderen Kirchenstruktur für die Ex-Anglikaner.
Keith Newton (59), ehemaliger Bischof von Richborough, übernahm deren Leitung. Die anderen beiden Neuordinierten sind John Broadhurst (68), der frühere Bischof von Fulham, und Andrew Burnham (62), ehemals Bischof von Ebbsfleet.
Die Zeremonie nahm der katholische Primas von England und Wales, Vincent Nichols, vor. In seiner Predigt bezeichnete er die Ordination als „historischen Moment“. Er dankte Rowan Williams, dem Primas der anglikanischen Kirche von England und Erzbischof von Canterbury, für seine „charakteristische Einsicht und Großzügigkeit“, mit der er die Ernsthaftigkeit und Integrität seiner früheren Amtsbrüder anerkannt habe.
In einer Presseerklärung dankte Keith Newton der anglikanischen Kirche. „Ich sehe meinen Übertritt zur katholischen Kirche nicht als radikalen Bruch, sondern als weiteren Schritt auf meiner andauernden Pilgerschaft des Glaubens, die mit meiner Taufe begann“, so der Leiter der neuen katholischen Kirchenstruktur für Ex-Anglikaner.
Einem Bericht des BBC-Rundfunks war Hauptgrund für den Übertritt der ehemaligen Anglikaner die Ablehnung weiblicher Priester und Bischöfe. Englands katholischer Primas Nichols erwartet, dass weitere 50 anglikanische Geistliche zusammen mit ihren Gemeinden in den kommenden Monaten zur katholischen Kirche übertreten.
Die Konversion der drei Bischöfe könnte die anglikanische Kirche nach BBC-Meinung fundamental verändern. Viele traditionelle Anglikaner sähen die Balance zwischen der katholischen und der protestantischen Tradition sowie dem liberalen und dem traditionalistischen Lager in ihrer Kirche gefährdet. Vor allem konservative Geistliche befürchteten, dass die Kirche von England liberaler und protestantischer werden könnte und damit nicht mehr das gesamte theologische und soziale Spektrum Englands abdeckte.
Der Vatikan hat am Samstag in England das erste katholische Personal-Ordinariat für übertrittswillige Anglikaner errichtet. Es wird vom früheren anglikanischen Bischof Keith Newton geleitet, wie der Vatikan erklärte.
Die Glaubenskongregation gründete auf dem Territorium der Bischofskonferenz von England und Wales die neue Struktur „Our Lady of Walshingham“, benannt nach einem englischen Wallfahrtsort. Gleichzeitig bestimmte Papst Benedikt XVI. den 59-jährigen Newton zum Ordinarius – im Rang eines Priesters. Newton war am Neujahrstag zusammen mit seiner Frau in der Londoner Westminster-Kathedrale in die katholische Kirche aufgenommen worden. Am Samstag empfing er zusammen mit zwei weiteren früheren anglikanischen Bischöfen die katholische Priesterweihe.
Zum geistlichen Patron der neuen Kirchenstruktur benannte der Vatikan den vor wenigen Monaten vom Papst seliggesprochenen Kardinal John Henry Newman (1801-1890). Es handelt sich um das erste Personal-Ordinariat für frühere Anglikaner, das auf Grundlage des Päpstlichen Erlasses „Anglicanorum coetibus“ vom November 2009 gegründet wurde. Das Schreiben sieht für ehemalige Anglikaner besondere Strukturen mit einigen Sonderrechten in der katholischen Kirche vor. So können die Gläubigen auch nach dem Übertritt etliche anglikanische Traditionen – etwa in der Liturgie – beibehalten.
Frühere anglikanische Kleriker können in der katholischen Kirche zu Priestern geweiht werden, auch wenn sie verheiratetet sind. Der Bischofsrang ist für Verheiratete – wie in den katholischen Ostkirchen – jedoch prinzipiell ausgeschlossen.
Die ersten Gruppen anglikanischer Konvertiten sollen an Ostern in die katholische Kirche aufgenommen werden, heißt es in einem Kommunique des Vatikan. Newton werde zusammen mit den beiden ebenfalls am Samstag zu katholischen Priestern geweihten früheren Anglikaner-Bischöfen Andrew Burnham und John Broadhurst die ersten Gruppen von Konvertiten auf den Übertritt vorbereiten. Die ersten Priesterweihen früherer anglikanischer Geistlicher seien in der Pfingstzeit geplant.
Die neue Kirchenstruktur soll es ehemaligen Anglikanern ermöglichen, Elemente ihres religiösen Erbes zu bewahren, stellte das Kommunique klar. Zugleich halte die katholische Kirche aber am ökumenischen Dialog fest, der für sie Priorität habe. Die Initiative zur Einrichtung der Personal-Ordinariate sei von verschiedenen Gruppen von Anglikanern gekommen. Sie hätten erklärt, den gemeinsamen katholischen Glauben auf Grundlage des Katechismus der katholischen Kirche zu teilen und das Papstamt anzuerkennen. Solchen Bestrebungen wolle der Vatikan mit der Bildung von Ordinariaten dieser Art eine sichtbare Form der vollen Gemeinschaft geben.
dom-radio, 15.1.
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Bevor der tunesische Staatspräsident sein Land verließ, hatte er tags zuvor eine TV-Ansprache gehalten, mit der er allerdings das Ruder nicht mehr herum reissen konnte.
„„Ich habe euch verstanden“, hatte ein zerknirscht wirkender Ben Ali gesagt und hinzugefügt: „Ich werde es nicht dulden, dass ein weiterer Tropfen Blut vergossen wird.“ Offiziell sind seit dem Beginn der Unruhen am 17. Dezember 23 Menschen ums Leben gekommen. Oppositionsgruppen sprechen hingegen von mehr als doppelt so vielen Todesopfern.
Seine Ansprache fiel sehr emotional aus. Er sprach erstmals im lokalen Dialekt und verzichtete auf das klassische Arabisch. Ben Ali warf Gefolgsleuten vor, ihn hintergangen zu haben. „Sie haben mich getäuscht“, sagte er. „Ich verstehe die Tunesier, ich verstehe ihre Forderungen“, betonte er. „Ich bin traurig über das, was jetzt passiert nach 50 Jahren im Dienst für das Land.““
faz net vom 14.1.
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Letztes Wort
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„Ich sterbe.“
Leonhard Euler, Schweizer Mathematiker, 1783
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Extrablatt
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Rachid al-Ghannouchi
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Rachid Ghannouchi
Rachid al-Ghannouchi (Ra-šid al-G.annu-ši-; * 22. Juni 1941 in Tunesien) ist ein tunesischer Oppositioneller und Führer der verbotenen islamischen Nahda-Bewegung (ehemals Mouvement de la Tendence Islamique, MTI) in Tunesien. Ghannouchi vertritt einen reformierten Islam sowie Demokratie und die Anwendung Menschenrechte in Tunesien. Vor allem wegen verschiedener Anschuldigungen gegenüber seiner tunesischen Ennahda Bewegung durch die tunesische Regierung, die Ghannouchi u. a. Aufrufe zu einer gewaltsamen Durchsetzung seiner Ideologien vorwirft, sowie seiner radikalen Meinungen während des Golf Krieges 1991, wird Ghannouchi zwiespältig gesehen. Darüber hinaus ist er ein „begeisterter Anhänger der Hamas“, die ihn als Theoretiker schätzt und als einen der Ihren betrachtet[1]. Er hat Einreiseverbot in den USA[2] und lebt heute im Exil in London wo ihm seit August 1993 Asyl gewährt wird[3].
Nach dem Rücktritt von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali als Folge der Unruhen zum Jahreswechsel 2010/2011 in Tunesien kündigt er am 15. Januar 2011 in einem Interview an, daß er sich auf seine Rückkehr vorbereite und gewillt sei, sich an der von Fouad Mebazaâ vorgeschlagenen Übergangsregierung „der nationalen Einheit“ zu beteiligen[4].
Inhaltsverzeichnis
* 1 Biografie
* 2 Ideologie und Bedeutung
* 3 Siehe auch
* 4 Literatur
* 5 Quellenangaben
* 6 Weblinks
Biografie
Raschid al-Ghannouchi wurde am 22. Juni 1941 in Tunesien geboren. Durch seine religiöse Familie – der Vater war Imam – kam er früh mit seiner Religion in Berührung. Er erlebte als prägende Erlebnisse die Geschehnisse nach Ende des Zweiten Weltkrieges und den tunesischen Widerstand gegen die französische Kolonialpolitik. Als er als Jugendlicher auf eine Vorbereitungsschule der Zaitouna-Universität geschickt wurde, kam er zum ersten Mal mit der säkularen Moderne der Städte in Bewegung, im starken Kontrast zum einfachen und religiös geprägten Leben auf dem Land, wo er aufwuchs. Ähnlich wie viele junge Tunesier seiner Zeit fiel er bald in eine Identitätskrise, zwischen säkularer, französisch beeinflusster Moderne und religiösen und kulturellen Wurzeln, die keine Relevanz im Säkularismus der französischen Kolonialzeit und dem nachfolgenden Bourguiba-Regime besaßen.[5]
1959 bis 1962 studierte er an der Zaitouna Universität in Tunis, zog anschließend kurze Zeit nach Kairo, wo er ein Landwirtschaftsstudium beginnt. Aufgrund der politischen Umstände floh er jedoch wenige Monate später nach Syrien, studierte in Damaskus 1964–1968 Philosophie. 1965 reiste er das erste Mal nach Europa, bereiste Deutschland, Frankreich, die Niederlande. Die Eindrücke von religiösem Verfall und fehlender Moral wogen schwer. 1968 zog er nach Paris, brachte sein dortiges Philosophiestudium aber nicht zu Ende. Er kehrte nach Tunesien zurück, fing dort an Philosophie zu unterrichten. Erste Artikel erschienen zur Reformierung der Unterrichtspläne an Schulen.[5]
1970 bis 1973 leitete er die von ihm ins Leben gerufene Jama’at al-Islamiyya, eine religiöse Vereinigung, die sich darauf konzentrierte, die Verwestlichung Tunesiens zu kritisieren. Die Gruppe wurde 1973 aufgrund des durch das Borurguiba-Regime verhängte Verbot sozialer und politischer Gruppierungen verboten. Die Arbeiterproteste in Tunis 1978 sowie die Islamische Revolution im Iran 1979 inspirierten Ghannouchi zu einer Weiterentwicklung seiner Ideologie. 1981 gründete er das Mouvement de la Tendence Islamique (MTI), eine islamistische Gruppe, die seiner Ideologie folgend die despotische Regierung kritisierte und sich für einen demokratisch-inspirierten islamischen Staat einsetzte. Infolgedessen wurde Ghannouchi inhaftiert und verbrachte die Jahre 1981 bis 1984 im Gefängnis. 1987 wurde er erneut inhaftiert, zusammen mit anderen führenden Persönlichkeiten der MTI-Bewegung, und wegen Anstiftung zu Gewalt und Aufwiegelung zu einem Staatsstreich zu Tode verurteilt. Der Fall Ghannouchi wurde zum Politikum, Politiker auch in der Regierungspartei Bourguibas kritisierten den Prozess, Richter hoben die ausgesprochene Todesstrafe wieder auf.[5]
1987 löste Zine El Abidine Ben Ali Habib Bourguiba an der Spitze des Staates ab, Ghannouchi und andere inhaftierte Mitglieder der MTI kamen 1988 frei. Die Führung der Gruppe übernahm 1988 Sadok Chourou, der als radikal eingestuft wird, während Ghannouchi noch inhaftiert war.[6] Nachdem Ben Ali ein pluralistischeres politisches System ankündigte, stellte Ghannouchi einen Antrag zur Anerkennung der MTI, die sich in Ennahda umbenannte. Mitglieder der Partei nahmen als unabhängige Kandidaten an den Parlamentswahlen 1989 teil und errangen große Erfolge. Das Regime jedoch akzeptierte einen solchen Machtgewinn für eine Oppositionspartei nicht und lehnte den Antrag auf Anerkennung der Nahda-Partei ab. Mitglieder wurden von nun an als Mitglieder einer illegalen politischen Vereinigung verfolgt. Ghannouchi zog 1989 freiwillig ins britische Exil, wo er bis heute lebt.[5]
Anfang der 1990er macht er Schlagzeilen durch seine radikale Kritik der amerikanischen Präsenz in Saudi-Arabien während des Golfkrieges. Analysten sehen diese Radikalisierung als politischen Zug, um die tunesische Regierung mit ihrer Unterstützung der anti-Irak Allianz zu Sturz zu bringen – ursprünglich lehnte Ennahda das Regime Saddam Husseins als unislamisch ab. Ghannouchi rief in seinen folgenden Reden und Schriften Muslime weltweit zum Kampf gegen die saudische Regierung auf, die sich mit ihrer Einladung der Amerikaner in das Land der heiligen Stätten des Islams selbst als islamisch disqualifiziert hatte. Kritiker werfen Ghannouchi die Anwendung des Takfir vor, was den Kampf gegen des Unglaubens bezichtigte Staaten legitimiere.[7] Vorwuerfe gegen Ghannouchi folgen in den folgenden zwei Jahren mit Bezug auf durch das Regime in Tunesien aufgedeckte Terrorpläne der Ennahda. Ghannouchi zieht gegen mehrere britische Zeitungen und gewinnt alle Prozesse, in denen festgestellt wird, dass Ghannouchi als in London lebender Ex-Führer der Ennahda keine Beteiligung oder Mitwissen an Terrorplänen der Ennahda nachzuweisen sei.[8]
Im Mai 2001 segnet er in einer von Al-Jazeera ausgestrahlten Fernsehsendung die Mütter von Selbstmordattentätern mit den Worten: „Ich möchte meine Segenswünsche den Müttern dieser Jugendlichen übermitteln, dieser Männer, denen es gelungen ist, ein neues Gleichgewicht der Kräfte zu erringen … Ich segne die Mütter, die im gesegneten Palästina den Samen dieser Jugendlichen gepflanzt haben, die dem internationalen System und den von den USA unterstützten arroganten Israelis eine wichtige Lehre erteilt haben. Die palästinensische Frau, die Mutter der Shahids [Märtyrer], ist selbst eine Märtyrerin, und sie hat ein neues Vorbild für die Frau geschaffen …“[9]
Ideologie und Bedeutung
Der einstige tunesische Mouvement de la Tendance Islamique MTI, heute ANNAHDA-Partei, wurde nicht direkt begründet, er entstand durch den Zusammenschluss dreier Sympathisanten der pakistanischen Tablighi-Jamaat-Gruppe, die um 1966-1967 begann, in Tunesien zu missionieren. Diese drei waren Schaikh bin Milad, Rached Ghannouchi, ihr späterer Präsident und wichtigster Ideengeber, sowie Ahmida Enneifar. Das Interesse an Ghannouchi wurde speziell dadurch geweckt, dass er sich anders als die Anführer anderer fundamentalistischer Bewegungen auf spektakuläre und medienwirksame Weise für die liberale Demokratie aussprach. Überhaupt gibt er sich sehr pragmatisch und lebensbejahend. Er besteht auf der Notwendigkeit, die Künste nicht zu vernachlässigen, und kritisiert diejenigen, die Religionswissenschaften in einer verstaubten Art betreiben, so dass den Jugendlichen der Sinn an der Religion entgehe. Sein Beharren auf sozialer Gerechtigkeit machte die Bewegung für Jugendliche attraktiv und handelte ihm von seinen Kritikern den Ruf ein, er sei ein verkappter Marxist. Ein Vorwurf, mit dem er gerne kokettiert, um seine gegenwartsbezogene Politik zu unterstreichen. Er warnt vor der oft wiederholten Behauptung, der Westen sei in seinem Abstieg begriffen; dieser Vorwurf diene nur als ein Sedativum für die Muslime. Obwohl auch er glaubt, dass der Zerfall im Westen eine Tatsache sei, mindestens auf der moralischen Stufe, sieht er darin wenig Trost für diejenigen, deren Abstieg noch weiter reicht. Anders als seine Kollegen warnt er davor, alle Ideen, die aus dem Westen kommen, speziell die Demokratie, pauschal zu verwerfen, allenfalls müsse man sie differenziert betrachten. So ergründet er erst einmal, welcher Leitgedanke im Westen den Motor bildet. Die zentrale Idee im Westen sei der Glaube an den Menschen, dass der Mensch in sich selbst für sich selbst existiere und der Maßstab aller Dinge sei. Der Mensch könne seine Welt und sein Schicksal kontrollieren, seine Welt verstehen und sie komplett beherrschen. Die positiven Früchte eines derartigen Glaubens seien die Befreiung des Menschen von dem Gefühl der Ohnmacht und der Ausrichtung seiner Gedanken in praktische und sachliche Bahnen, der Glaube an Fortschritt und Unerschütterlichkeit in der Bewältigung des Unbekannten, ein Sinn für die Werte der Zeit und die Aufwertung der menschlichen Würde und Freiheit, was sich in Gestalt der Demokratie und des Respekts für die Menschenrechte auf der politischen Ebene widerspiegele. Allerdings, so wird von Ghannouchi eingeschränkt, berge dieser Glaube auch seine negativen Aspekte, wie dies gesehen werden könne in der Interesselosigkeit an all den Dingen, die über das Materielle hinausgehen. Die Konsequenz daraus sei, dass das intellektuelle und spirituelle Leben des Westens bemerkenswert hinter dessen materiellem Fortschritt zurückbleibe, weswegen das Leben in einem dekadenten Hedonismus dahingleite, bar jeglicher überzeugenden Vision von der wahren Bedeutung des Lebens. Hier deutet sich schon an, dass Ghannouchi die demokratischen Mechanismen für seine Konzeption eines auf islamischen Werten basierenden Staatswesens entdeckt, er allerdings ihren säkularen Seitenaspekt ablehnt, da dieser dem Menschen eine Freizügigkeit einräumt, die er für zivilisationshemmend, wenn nicht gar zivilisationszerstörend befindet. Allerdings kritisiert er, dass die liberale Demokratie nur Anwendung innerhalb der nationalen Grenzen finde, international jedoch nach dem Gesetz des Naturzustandes handle [10], womit Ghannouchi auf die Mechanismen der Globalisierung und der westlichen Interventionspolitik anspielt. Er sieht das Problem nicht in den Idealen oder den Mechanismen der Demokratie, sondern in einigen Aspekten der Philosophie, der diese Ideale entstammen. Seiner Meinung nach ist die liberale Demokratie von westlichen Philosophien wie denjenigen von Darwin, Hegel und Nietzsche beeinflusst, die eine entsprechende Haltung des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren rechtfertigen und legitimieren. Demokratische Regierungen in aller Welt seien in Unterdrückung und sogar Genozide verwickelt, was die inhumanen Seiten der westlichen Demokratien offenbare [11]. Ghannouchi beklagt, dass es der Demokratie immer noch nicht gelungen sei, die Angriffe von Völkern gegeneinander sowie Betrug und wirtschaftlich motivierte Übergriffe und Übervorteilung zu verhindern. Für Ghannouchi ist es unerlässlich, dass die Völker ihre Egoismen überwinden und einer einzigen gültigen Menschlichkeit nachstreben mit anderen Worten, dass allen Menschen überall auf der Welt unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Nation nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch die gleichen Rechte zukommen. Denn seiner Meinung nach ist es die materialistische Philosophie, die als einzige Wertegrundlage des liberalen demokratischen Systems angesehen wird und dafür verantwortlich ist, dass sich der Westen außerhalb seiner Grenzen oppressiv gibt. Er vertritt daher als islamische Alternative eine auf ethischen bzw. religiösen Werten aufbauende Demokratie. Er fordert, dass ein Angriff auf eine einzige Person gewertet werden müsse wie ein Angriff auf die gesamte Menschheit. Für Ghannouchi ist klar, dass die Demokratie zur Entfaltung eines der besten politischen Systeme beitragen könne, ja geradezu elementar sei, solange sie nur begleitet werde von einer universellen, den Menschen achtenden Philosophie. Sie sei immer noch das beste politische System, das dem menschlichen Geist je entsprungen sei, auch ohne seine Realisierung in einer islamischen Demokratie. Es sei unverzeihlich, dass die Fundamentalisten sie pauschal ablehnten mit der Begründung, sie sei ja dem westlichen Geist entsprungen. Ganz im Gegenteil müsse überlegt werden, wie sie dem islamischen Geist zunutze gemacht werden könne, um seine Werte bestmöglich entfalten zu können [12]
Ein etwas kritischer Blick in sein berühmtes Buch Al-Hurriyat al-`amma fi d-daula al-islamiya (Dt.: Die allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat) offenbart, was er unter seiner islamischen Demokratie tatsächlich versteht. Aufschlussreich ist Ghannouchis ausdrückliche Haltung zum Apostaten: Er betrachtet die freiwillige und bewusste Abkehr vom Islam und die Hinwendung zum Unglauben, aufgrund derer grundsätzliche Leitlinien des Islam hinsichtlich Glaube, Gesetz oder Ritus negiert werden, als ein politisches Vergehen. Das islamische Recht auf Freiheit und Sicherheit schließt diese Abkehr vom Glauben nicht mit ein. Das Vergehen besteht in der Abspaltung, einem Akt von Meuterei und Verrat, das im Rahmen der Verantwortung des Staates für die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft sowie von Recht und Ordnung zu bestrafen ist. [13] Durch diese Stellungnahme wird folglich widerlegt, dass er gewillt ist, der Gesellschaft wirklich bis in die letzte Konsequenz die Wahlfreiheit zwischen entgegengesetzten Lebenskonzepten einzuräumen.
Ghannouchis Aussage zur Rolle der durch die Scharia vorgegebenen Grenzen in seiner islamischen Demokratie ist unmissverständlich, da seiner Ansicht nach kein politisches Konzept als islamisch betrachtet werden kann, wenn es sich außerhalb der Scharia bewegt. Aus islamischer Sicht sei ein solches Konzept schlicht illegitim. [14] Nach Ghannouchi steht die Autorität der Scharia über jeder anderen Autorität der muslimischen Gesellschaft. Diese Aussage ist unmissverständlich.
Bezüglich des Mehrparteiensystems drückt sich Ghannouchi sehr vorsichtig aus, indem er ähnliche Bedenken wie viele andere Fundamentalisten äußert, die Umma könne sich an der Richtungsvielfalt spalten. Er sieht darin jedoch einen positiven Aspekt des Wettbewerbs, der sich allerdings an die Grundregeln der konstruktiven Zusammenarbeit halten müsse. Unmissverständlich ist dort allerdings die Einschränkung zu vernehmen, dass er nicht beabsichtigt, Parteien, die die religiöse Ordnung des Islam als oberstes Regulativ einer Gesellschaft ablehnen, irgendeine Beteiligung an der Gestaltung des politischen Lebens einzuräumen. Seiner Meinung nach bleibt demjenigen, der am politischen Geschehen beteiligt werden will, nur die Option, zum Islam überzutreten; andererseits gesteht er Nichtmuslimen zu, in muslimischen Parteien mitwirken zu dürfen, vorausgesetzt, sie respektieren die Wertvorstellungen der islamischen Gesellschaft. Der Zugang zu Führungsämtern innerhalb der Regierung soll ihnen jedoch nicht erlaubt werden. [15]
Auch wenn Ghannouchi offensichtlich keine liberale Demokratie im westlichen Sinne zu etablieren beabsichtigt, hat er sich durchaus beachtenswerte Gedanken darüber gemacht, wie Rechtsstaatlichkeit in einem religiösen System zumindest theoretisch gewährleistet werden kann, das als besonders anfällig für Machtmissbrauch bewertet wurde. Ghannouchi erkennt die Gefahr, die aus dem Umstand resultiert, dass die Scharia interpretiert werden muss und damit die Gefahr des Machtmissbrauchs durch interessengesteuerte Interpretation gegeben ist. Sein Lösungsvorschlag, diese Monopolisierung zu unterbinden, besteht darin, dass Parteien mit unterschiedlichem Ijtihad (Interpretations- Anstrengung) in Wettbewerb zueinander treten sollen, um dem Volk die Wahl zu lassen, sich für die ihm genehme Version zu entscheiden. [16] Für den Fall allerdings, dass nur Interpretationsvorschläge gemacht werden, die das Volk um keinen Preis annehmen will, soll diesem ein Mittel in die Hand gegeben werden, diese Vorschläge abzulehnen. Was Ghannouchi nach kritischer Betrachtung folglich beabsichtigt, ist ein Staatsregulativ mit machteinschränkenden Mechanismen zur Gewährung von Rechtssicherheit im Rahmen religiöser Gesetze. Die einzige logische Erklärung für seine Äußerungen bezüglich seiner Bereitschaft, den Tunesiern immer das volle Recht einzuräumen, sich notfalls für den Atheismus oder Kommunismus zu entscheiden, ist die, dass diese Entscheidungsfreiheit nur für die erste Wahl eingeräumt werden soll, der sich die Tunesier stellen müssten, und zwar für die Wahl für oder gegen ein religiös motiviertes Staatswesen. Entschieden sie sich bei dieser Wahl für ein laizistisches Modell, so respektiere er ihre Wahl, entschieden sie sich allerdings für ein islamisches Modell, würden dessen Gesetze in nicht revidierbarer Weise in Kraft treten.[17] Dass er diese Meinung vertritt, ist ihm im Prinzip aus seiner religiös geprägten Ausgangsposition nicht vorzuhalten. Vorzuwerfen ist ihm nur, dass er seine Anhänger darüber im Unklaren lässt und sie durch spektakuläre, medienwirksame Äußerungen irreführt, indem er ihnen suggeriert, ein liberaler Denker zu sein. Vor allem wäre ein sich durch eine bestimmte Religion definierender Staat nur der Staat seiner sich zu der Staatsreligion bekennenden Bürger, woraus sich ein ständiges Potential für Willkür gegen Minderheiten in der eigenen Volksgruppe ergeben würde. Seine Demokratie wäre zwar eine islamische Demokratie, aber auf keinen Fall eine liberale Demokratie.
Dass hinsichtlich Ghannouchis Einstellung zur Demokratie bzw. seiner Forderung nach einer allgemeingültigen Menschlichkeit Vorsicht geboten ist, zeigen seine weniger zur Schau gestellten Aktivitäten im Hintergrund. Seit Anfang der 90er Jahre im Londoner Exil lebend, ist er heute Mitglied im European Council for Fatwa and Research, [18] der der Führung von Yusuf al-Qaradawi untersteht und den ägyptischen Muslimbrüdern nahe steht. Wichtigstes Ziel dieses Rates ist es, das Leben der Muslime in Europa entsprechend den Bestimmungen der Scharia zu regeln.[19] Wie das Middle East Media Research Institute berichtet, hat Qaradawi selbst noch im Jahr 2004 eine Fatwa erlassen, die in der Al-Ahram Al-Arabi vom 3. Juli desselben Jahres erschienen ist und die das Töten muslimischer Intellektueller als Apostaten erlaubt. Ghannouchi selbst erließ, so berichten einige sich als liberal bezeichnende arabische Denker, noch vor kurzem eine Fatwa, die es erlaube, alle israelischen Zivilisten zu töten, weil es, so seine Rechtfertigung, in Israel keine Zivilisten gebe, denn die Bevölkerung Männer, Frauen und Kinder seien die Reservesoldaten der Armee und seien als solche zu töten. [20] Es kann davon ausgegangen werden, dass heute an die 30% der Tunesier mit Ghannouchis ANNAHDA-Bewegung sympathisieren. In den Gefängnissen Tunesiens ist Folter an der Tagesordnung, und sie richtet sich gegen jede Form von Opposition, die liberale wie die religiöse. Gerade unter Studenten und im Mittelstand wird der palästinensisch-israelische Konflikt mit großer Anteilnahme verfolgt, was diese Gruppen anfällig für radikales Gedankengut macht [21] Hinzu kommt die desolate wirtschaftliche Lage. Bereits ein Blick auf die Homepage der ANNAHDA lässt eine starke Radikalisierung entdecken. Hier ist ein Traktat von Hassan al- Banna, dem Begründer der ägyptischen Muslimbrüder, wiedergegeben mit dem Titel Sind wir ein handlungsfähiges Volk? , das nicht nur den Dschihad als Verteidigungskrieg legitimiert, sondern ebenso die Eroberungszüge wieder salonfähig macht.[22][23]
Siehe auch
* Politischer Islam
* Dschamal ad-Din al-Afghani
* Muhammad Abduh
* Nahda
Literatur
* Azzam Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat Within Islamism. Oxford University Press, New York 2001[24]
* Joyce M. Davis: Interview with Rachid al-Ghannouchi. In: Between Jihad and Salaam: Profiles in Islam. MacMillan, 1997
* Michael Collins Dunn: The Al-Nahda Movement in Tunisia: From Renaissance to Revolution. In: Ruedy (Hrsg.): Islamism and Secularism in North Africa. S. 149–65
* Susan Waltz: Islamist Appeal in Tunisia. In: Middle East Journal. Band 40, Nr. 4, Herbst 1986, S. 651–70
* Nikkie Keddie: The Islamist Movement in Tunisia. In: The Maghreb Review. Band II, I, 1986, S. 26
* Rached Channouchi: Penseur et Tribun. Interview. In: Le Cahiers De L’Orient. Nr. 27, 1992
* Khadija Katja Wöhler-Khalfallah: Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie. Algerien und Tunesien: Das Scheitern postkolonialer „Entwicklungsmodelle“ und das Streben nach einem ethischen Leitfaden für Politik und Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004.

Quellenangaben
1. Rezension zu Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism von Martin Kramer, erschienen in Middle East Quarterly im Herbst 2002
2. Rezension zu Liberal Islam: A Sourcebook von Daniel Pipes, erschienen in Middle East Quarterly im Juni 1999
3. Martin Kramer: A U.S. Visa for Rachid Ghannouchi? In: Policywatch, The Washington Institute for Near East Policy, no. 121, June 29, 1994
4. Tunesien: Islamist kündigt Rückkehr aus Exil an in: Focus-Online vom 15. Januar 2011
5. a b c d Tamimi, Azzam (2001): Rachid Ghannouchi: A Democrat Within Islamism. New York: Oxford University Press
6. Dunn (1994): 158
7. Dunn (1994): 159
8. Dunn (1994): 160-161
9. In memri.org: The Intifada and the Fate of Arab Regimes, Special Dispatch No.245, Juli 24, 2001
10. Rached al-Ghannouchi: Al-Hurriyat al-àmma fi d-daula al-islamiya (Dt.: Die allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat). Beirut: Markaz dirasat al-wahda al-islamiya, 1993, S. 85f.
11. Azzam S. Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism. New York: Oxford University Press, 2001, S. 87
12. Rached al-Ghannouchi: Al-Hurriyat al-àmma fi d-daula al-islamiya (Dt.: Die allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat). Beirut: Markaz dirasat al-wahda al-islamiya, 1993, S. 87.
13. Azzam S. Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism. New York: Oxford University Press, 2001, S. 78
14. Azzam S. Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism. New York: Oxford University Press, 2001, S. 90
15. vgl. Rached al-Ghannouchi: Al-Hurriyat al-àmma fi d-daula al-islamiya (Dt.: Die allgemeinen Freiheiten im islamischen Staat). Beirut: Markaz dirasat al-wahda al-islamiya, 1993, S. 292f.
16. Azzam S. Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism. New York: Oxford University Press, 2001, S. 83 und S. 99f.
17. Khadija Katja Wöhler-Khalfallah: Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004, S. 377 und S. 405f.
18. Mitglieder des ECFR: [1]
19. Ziele des ECFR: [2]
20. MEMRI: The Middle East Media Research Institute. Special Dispatch vom 9. November 2004 mit dem Titel Arabische Liberale rufen UN zu einem Tribunal zur Verfolgung von Terroristen und ihren religiösen Vordenkern auf: [3]
21. Der Kessel steht unter Druck. In: Die Zeit vom 18/2002
22. Hassan al-Banna: Hal nahnu qaumun `amaliyyun. (Dt.: sind wir ein handlungsfähiges Volk?). [4] (24. Februar 2006)
23. vgl. Khadija Katja Wöhler-Khalfallah: Democracy Concepts of the Fundamentalist Parties of Algeria and Tunisia – Claim and Reality. International Journal of Conflict and Violence 1 (1) 2007. [5]
24. Rezension zu Rachid Ghannouchi: A Democrat within Islamism von Martin Kramer, erschienen in Middle East Quarterly im Herbst 2002

Weblinks
* Website von Rachid al-Ghannouchi
* Website der Nahda Bewegung
* Michael Dauderstädt: Europa und Nordafrika – mehr Paranoia als Partnerschaft
* Qantara.de: Islamistische Parteien im Maghreb